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geschrieben am: 07.09.2004 um 16:37 Uhr
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Natürlich lernen Kinder auch mit Erziehung. Vor allem lernen sie dabei jedoch die Regeln des Erziehens: daß Kinder machen müssen, was man ihnen sagt. Daß es im Konfliktfall nicht darauf ankommt, was man als Kind will oder dazu meint, sondern daß die Erzieher entscheiden. Kinder “erlernen” am Ende den Glauben, daß Erziehung unverzichtbar ist. Und was man einmal verstanden zu haben glaubt, gibt man nicht leicht wieder auf. So erzieht Generation um Generation ihre Kinder – auch wenn das Zusammenleben unter den Bedingungen der Gleichberechtigung eine Beziehungsmöglichkeit ist, die auf Bevormundung und Gewalt verzichtet.
Um noch ein mögliches Mißverständnis auszuräumen: Auf Erziehung zu verzichten, heißt nicht, das Kind zu vernachlässigen, sich überhaupt nicht mehr um es zu kümmern. Gerade kleine Kinder können viele Sachen noch nicht und sind auf Unterstützung angewiesen. Aber muß Hilflosigkeit und Abhängigkeit zum Anlaß genommen werden, um sich über den anderen zu erheben, ihm ein Ziel vorzuschreiben und das Erreichen dieses Ziels notfalls mit Gewalt durchzusetzen? Macht man dies bei alten Menschen, oder bei Menschen mit Behinderung? Und wenn ja, ist es fair?
Und noch ein wichtiger Aspekt: Brauchen Kinder Grenzen? Anhänger traditioneller Erziehung beantworten diese Frage klar mit “Ja”, Anhänger der “antiautoritären” Variante beantworten sie mit “Nein”. Der Fehler, den beide machen, ist, alle Grenzen in einen Topf zu werfen. Es gibt nämlich zwei qualitativ völlig unterschiedliche Arten von Grenzen. Es gibt aggressive Grenzen und es gibt defensive. Defensive Grenzen setzt man zur eigenen Verteidigung, also um sich vor fremden Übergriffen zu schützen (z.B.: “Es stört mich, wenn du nachts um drei laut Musik hörst, weil ich dann nicht schlafen kann.”). Sie entsprechen dem Grundsatz “Freiheit, solange die Freiheit des anderen nicht eingeschränkt wird”. Diese Notwehrgrenzen sind für ein friedliches Zusammenleben sinnvoll. Und sie widersprechen auch der Gleichberechtigung von Eltern und Kindern nicht.
Aggressive Grenzen hingegen setzt man anderen Menschen, um sie zum Beispiel “vor sich selber zu schützen” und sie zu ihrem (angeblichen) Glück zu zwingen (z.B.: “Du darfst keine laute Musik hören, weil es nicht gut für dich ist!”). Erzieherische Grenzen sind aggressive Grenzen. Mit dem Notwehrrecht lassen sie sich nicht begründen. Auf gesellschaftlicher Ebene trifft man diese Art von Grenzen bemerkenswerter Weise vorwiegend in den Staaten an, in denen Menschen-, Grund- und Bürgerrechte auch für Erwachsene nicht gelten. Aggressive Grenzen haben mit Macht zu tun, nicht mit Recht (Gerechtigkeit) wie die defensiven Grenzen.
Der Fehler der sogenannten antiautoritären Erziehung war es also, nicht nur die aggressiven Grenzen abzuschaffen, sondern auch die defensiven. Antiautoritär aufgewachsene Kinder waren es somit gewöhnt, auch defensive Grenzen nicht respektieren zu müssen, was zu Konflikten mit anderen Menschen führt. Vertreter der traditionellen Erziehung behaupten jetzt, daß der Versuch gescheitert sei, Kinder freier aufwachsen zu lassen. Antiautoritäre Erziehung ist aber nicht wegen antiautoritärem Verhalten gegenüber Kindern gescheitert, sondern wegen des Aufrechterhaltens der Idee, daß man Kinder erziehen muß. Und all denen, die meinen, Kinder bräuchten allein schon deshalb Grenzen, um sich an irgend etwas reiben zu können, sei gesagt, daß es genug reale Widerstände gibt, fernab von pädagogischen Scheinwelten.
Aber muß man Kinder nicht doch schützen? Es läßt sich nicht leugnen, daß es im Leben viele Gefahren gibt. Das gilt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Zum einen kann man versuchen, die Gefahren zu minimieren (Man muß z.B. unisolierte Stromkabel nicht länger aus der Wand gucken lassen, als es unbedingt nötig ist). Zum anderen kann man Kindern in für sie unübersichtlichen Situationen Unterstützung anbieten, sie im Notfall retten und ihnen in ruhiger Atmosphäre, wenn das Kind “aufnahmebereit” ist, erklären, daß fahrende Autos und geöffnete Fenster gefährlich sein können und wie man sich vor den Gefahren schützen kann. All das steht nicht im Widerspruch zur Gleichberechtigung.
Verbote sind mit dem obigen Grundsatz über Grenzen nicht vereinbar und sie sind auch kein wirksamer Schutz, da Kinder die verbotenen Sachen jederzeit ausprobieren können, wenn sie alleine sind. Kinder wollen sich auch gar nicht in Gefahr bringen. Verbote können jedoch Gegenreaktionen hervorrufen, bei denen die Kinder die Sicherheit ihrer eigenen Person übersehen, so daß sie erst dadurch in wirkliche Gefahr geraten. Außerdem tragen Verbote nicht zum Verständnis von Gefahrensituationen bei.
Grundsätzlich sollte gelten, daß Schutz nicht zu einer Einschränkung von Rechten führen darf, sondern Bedürftigen zusätzliche Hilfestellungen angeboten werden sollten.
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